Die französische Originalausgabe La Vie mode d´emploi erschien 1978. Das Buch wird 2013 also 35 Jahre alt.
Die deutsche Übersetzung von La Vie mode d´emploi erschien im März 1982, wenige Tage nach dem Tod des Autors am 3. März desselben Jahres.
Im März 1982 lag zugleich der 150ste Todestag Goethes (22. März 1832). Das experimentelle Hörspiel Die Maschine um Goethes berühmtestes Gedicht Wandrers Nachtlied hatte Perec 1972 in Deutschland bekannt gemacht. Georges Perec hatte sich auf die besonders liebevoll und aufwendig ausgestattete deutsche Ausgabe (Leinen, Bleisatz, Fadenheftung) in der Übersetzung seines Freundes Eugen Helmlé besonders gefreut. Der Saarländer Eugen Helmlé hatte bereits 1965/66 das erste veröffentlichte Buch von Georges Perec, Les Choses / Die Dinge übersetzt. [ALIW, 312f] Georges Perec hatte Helmlé viele Hinweise auf das versteckte Regelwerk hinter der Konstruktion des Romans und auf im Roman mehr oder weniger offensichtlich zitierte deutsche Quellen gegeben. [ALIW, 709].
Die erste deutsche Ausgabe von Das Leben Gebrauchsanweisung wurde in einer schwarzen Schachtel geliefert, die mit einem schwarzen Band umhüllt und mit rotem Wachs versiegelt war. Die Schachteln trugen einzeln nummerierte Etiketten mit der Aufschrift “Georges Perec DAS LEBEN Zweitausendeins„. Diese Schachteln waren getreue Nachbildungen der Schachteln, die, wie Kapitel 12 von Das Leben Gebrauchsanweisung berichtet, 1934 von Bartlebooth bei Madame Hourcade für seine Puzzles bestellt hatte:
“Fünfhundert völlig gleiche Schachteln, zwanzig Zentimeter lang, zwölf Zentimeter breit, acht Zentimeter hoch, aus schwarzem Karton, verschlossen mit einer schwarzen Schleife, die Winckler mit Wachs versiegelte, ohne andere Angaben als einem ovalen Etikett mit den Initialen P.B. und einer fortlaufenden Nummer.„ [Leben 79]
Das Motiv des Puzzles, das sich zusammen mit dem Buch in der Schachtel befand, war von Georges Perec selbst ausgesucht worden und er hatte persönlich den Schnitt der 99 Puzzle-Teile entworfen. Das Puzzle zeigt eine kolorierte Version der Radierung Une Maisonette bourgeoise von Bertall, das ist Charles Albert d'Arnoux (1820-82), veröffentlicht in L'Illustration im Januar 1845 und in dem Buch Le Diable a Paris. Paris et Les Parisiens, 1845. Das Haus auf dem Puzzle ist also ganz und gar nicht das Haus im Buch. Georges Perec war von einer ähnlichen Zeichnung von Saul Steinberg in The Art of Living (London, 1952) zu dem Aufriss des Hauses in der Rue Simon-Crubellier Nummer 11 angeregt worden [ALIW, 509, 514].
1969 war Georges Perec damit beschäftigt, ein riesiges Puzzle des Hafens von La Rochelle zusammenzusetzen. Dabei entwickelte er die zentrale Geschichte in Das Leben Gebrauchsanweisung, rund um das gepuzzelte Lebensprojekt des Milliardärs Bartlebooth. Das Leben Gebrauchsanweisung ist selbst wie ein Puzzle aus 99 Teilen zusammengesetzt, genau wie das Puzzle, das der deutschen Ausgabe beigegeben war. Auch die im Buch erzählten Geschichten sind teilweise wie Puzzles aus mehreren Stücken zusammengesetzt. Die 42 Elemente, die für jedes Kapitel vorgegeben waren, bilden jeweils ein Puzzle, dessen Teile in dem Kapitel zusammenzusetzen waren. Das Puzzle ist das Bauprinzip des gesamten Romans. Jedes Detail, jede erzählte Geschichte ist ein Baustein für das Ganze. Die Register sind wichtig, “damit man selber Geschichten neu zusammensetzen oder Geschichten fortsetzen kann, die nicht vollständig erzählt worden sind.„ “Das Ganze ist ein Spiel. Es ist ein Buch, glaube ich, mit dem man spielt, wie man mit einem Puzzle spielt.„ [BEIHEFT Interview 14]
Die Einleitung zu Das Leben Gebrauchsanweisung ist ein Aufsatz über die hohe Kunst des Puzzles und den bedeutenden Unterschied zwischen ausgestanzter Massenware und kunstvoll von Hand ausgeschnittenen Holzpuzzles. “Jede Gebärde, die der Puzzlespieler macht, hat der Puzzlehersteller vor ihm bereits gemacht; … jedes Tasten, jede Intuition, jede Hoffnung, jede Entmutigung, sind von dem andern ergründet, auskalkuliert, beschlossen worden.„ [Das Leben Gebrauchsanweisung 15, vgl. Kap 44] “Das Auge folgt den Wegen, die im Werk für es angelegt worden sind.„ (Paul Klee) [Zitat über der Einleitung] – und seien es falsche Fährten. [BEIHEFT 4, 5, 6, 12, 13, 14, 18 ALIW 622, ]
Im Englischen heißen Kreuzworträtsel “crossword puzzles„,
wie Georges Perec genau wusste. Georges Perec war seit seiner Jugend vernarrt
in Kreuzworträtsel, erstellte selbst welche und war sehr versiert in der Lösung
schwieriger Rätsel. In Frankreich war Robert Scipion (1921-2001) einer der
bekanntesten Spezialisten für Kreuzworträtsel, der jeden Sonntag im Nouvel
Observateur ein anspruchsvolles Rätsel veröffentlichte, das Georges Perec
bis zum Mittag gelöst haben wollte. Georges Perec wollte ihm das Wasser reichen
können und vom August 1976 an bis zu seinem Tod veröffentlichte er ohne
Ausnahme Woche für Woche ein anspruchsvolles Kreuzworträtsel in Le Point.
So nimmt es nicht wunder, dass auch in Das Leben Gebrauchsanweisung
direkt oder indirekt eine Reihe Kreuzworträtsel auftauchen (z.B. Kap. 23 und
25).
Liste 32, “Spiele„, enthält die Einträge “Kreuzworträtsel„ und “Puzzle„, Liste
8, “Ressort ?„, “ein Rätsel lösen„. [ALIW 426,576f 591f ]
Georges Perec war ein Virtuose im puzzeln mit Wörtern und Buchstaben. Sein Grand Palindrome von 1969 stand seit 1983 im Guinness Buch der Rekorde als das längste Palindrom der Welt (5566 Buchstaben, 6372 Anschläge). Dieses Palindrom bildet einen Satz, der nicht nur vorwärts und rückwärts gelesen werden kann, sondern rückwärts gelesen einen anderen Satz ergibt als vorwärts. In der veröffentlichten Version sind beide Varianten spiegelbildlich hintereinander gestellt, in der Mitte getrennt durch “***„.[ALIW 428]
Vorher hatte er schon das größte Leipogramm (auch Lipogramm) überhaupt verfasst. Ein Leipogramm entsteht durch die Auslassung eines bestimmten Buchstabens in einem Text. Der höchste Schwierigkeitsgrad wird erreicht, wenn der ausgelassene Buchstabe in der gewählten Sprache zugleich der häufigste ist oder mehrere – häufige – Buchstaben weggelassen werden. Seltene Buchstaben zu verfehlen, ist keine Kunst. Dieser Aufsatz enthält nur 34 mal den Buchstaben “x„, am häufigsten in dem Wort “Text„, aber 5118 mal den Buchstaben “e„. Das “e„ ist der häufigste Buchstabe in vielen europäischen Sprachen, auch im Französischen und Deutschen. [Wikipedia: Buchstabenhäufigkeiten in ausgewählten Sprachen ] 1967 begann Georges Perec mit der Arbeit an seinem E-Leipogramm und veröffentlichte 1969 seinen Roman “La Disparition„, 320 Seiten über das Verschwinden ohne ein einziges “e„. Eugen Helme übersetzte das unübersetzbare Buch 1986 ins Deutsche: “Anton Voyls Fortgang„ – ebenfalls ein Leipogramm ohne “e„. [ALIW 394, 398-403]
Im Kapitel 20 von Das Leben Gebrauchsanweisung “Moreau 1„, zitiert Georges Perec über fünf Seiten hinweg den (fiktiven) Werkzeugkatalog des Versandhandels der Madame Moreau. [ALIW 673] Im Interview mit Gabriel Simony (1981) bezeichnet Georges Perec dieses höchst prosaische Stück Sprache als Gedicht: “Es gibt einen Rhythmus, es gibt sogar Strophen, und jede Strophe endet mit dem Refrain ‚Gesamtgarantie ein Jahr‘„ “Warenhauskataloge„, so Georges Perec, “sind oft Bücher von tausend Seiten und sie bringen die Leute ebenso zum Träumen wie Romane.„ [BEIHEFT Interview 14]
Im Kapitel 33 beschreibt Georges Perec Madame Altamonts Keller in einer dreiteiligen Aufzählung des Inhalts der penibel sortierten Regale: “Jedes Ding hat einen Platz und jedes Ding ist an seinem Platz; man hat an alles gedacht.„ Die Aufzählung geht über drei Seiten und wird gefolgt vom Keller der Gratiolets: “Generationen haben dort ihren Abfall aufgetürmt, den nie jemand sortiert oder geordnet hat.„ (Dort ist übrigens Georges Perecs Schreibmaschine zu finden, auf der er Das Leben Gebrauchsanweisung getippt hat: “eine alte Underwood-Schreibmaschine, aus der berühmten Serie der Vier Millionen„.) Dinge erzählen Geschichten. [Leben 254-257, ALIW 670]
“Die Gefühle„, so Georges Perec, “muss man hinter den Gegenständen suchen.„ Deshalb erzählt sein Buch so viel von der Leidenschaft der Leute für die unnützen Dinge. [BEIHEFT Interview 15] Ein Mittel, die Gefühle hinter den Dingen erscheinen zu lassen, sind akribische Beschreibungen von Räumen und Bildern und lange Aufzählungen. In Kapitel 29 beschreibt Georges Perec eine große Abendgesellschaft über etwa drei Seiten anhand der Überbleibsel am nächsten Morgen, nachdem alle Gäste gegangen sind. Er kommt zu dem Schluss “daß das Fest prächtig und vielleicht sogar grandios gewesen, daß es aber nicht ausgeartet ist.„ [ALIW 511f vgl. Einweihungsparty von Perec / Moaty 9.12.1972]
1973 erklärte Georges Perec in einem Aufsatz (Approaches de quoi) sein Interesse an dem, was ist, dem Leben: Ihn interessiert nicht das Aufsehenerregende, Außergewöhnliche, Extraordinäre, sondern das, “was jeden Tag geschieht und Tag für Tag weiter vor sich geht – das Banale, Alltägliche, Offensichtliche, Gewöhnliche, Übliche, Infraordinäre, das gewohnte Hintergrundrauschen des alltäglichen Lebens.„ Das Gewöhnliche macht sich unsichtbar, daher braucht es einen kritischen Blick, um erkannt zu werden. “Nicht das Exotische, sondern das Endotische„ ist Gegenstand seiner Untersuchungen. Der Weg dahin sind akribische Beobachtungen und Beschreibungen: “Erstelle ein Liste von dem, was du in den Hosentaschen hast, in der Handtasche. Untersuche die Herkunft, den Gebrauch und die Zukunft von jedem Objekt, das du findest. Untersuche deine Teelöffel. Was ist unter der Tapete? … Warum kann man Zigaretten nicht in der Apotheke kaufen?”. [ALIW 521] ”.”Die Kunst der Aufzählung ist nicht einfach.” [ALIW 640] Das Leben steckt voller Gedichte. (Approaches de quoi ist enthalten in der 1989 erschienenen Aufsatzsammlung l´infra-ordinaire, deutsch Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler?, Manholt, 1991)
Der Plan der Zimmer zeigt die Skizze für das letzte Bild Valènes auf der letzten Seite des Buches. Die Zahl der Zimmer scheint in keinem Geschoss zehn zu ergeben
Georges Perec verwendete in seinem Arbeitsheft eine klare Zehner-Aufteilung:
|
1 |
2 |
3 |
4 |
5 |
6 |
7 |
8 |
9 |
10 |
1 |
Hutting |
Smautf |
Sutton |
Orlowska |
Albin |
Morellet |
Plassaert |
|||
2 |
Gratiolet |
Crespi |
Nieto & Rogers |
Jerome |
Fresnel |
Breidel |
Valène |
|||
3 |
Cinoc |
Dinteville |
Treppenhaus |
Winckler |
||||||
4 |
Reol |
Rorschach |
Foulerot |
|||||||
5 |
Berger |
Marquinaux |
||||||||
6 |
Bartlebooth |
Foureau |
||||||||
7 |
Altamont |
De Beaumont |
||||||||
8 |
Moreau |
Louvet |
||||||||
9 |
Nebeneingang |
Marcia |
Antiquitäten |
Nochère |
Eingangshalle |
Marcia |
||||
10 |
|
Keller |
Heizung |
Keller |
Aufzugmaschine |
Keller |
Keller |
Keller |
Das Springer- oder Rösselsprung-Problem auf einem Schachbrett mit 8*8 Feldern ist eine sehr alte Aufgabe. Leonhard Euler untersuchte das Problem 1759 auf eine neue Art und Weise und fand schließlich eine allgemeine Vorgehensweise für geschlossene Wege, bei denen der Springer mit dem letzten Zug wieder auf dem Ausgangsfeld landet und die sogar punkt- und achsensymmetrische Lösungen liefert.
Das Leben Gebrauchsanweisung hat aber nur 99 Kapitel und einen Epilog. Georges Perec hat bei der Rösselsprung-Lösung den Zug mit der Nummer 66 in die linke untere Ecke des Quadrats ausgelassen. Das ist kein Versehen. Der Springer startet auf dem Feld 6,6 und “66„ ist “99„, auf dem Kopf stehend. Abweichungen in dem scheinbar unausweichlichen Konstruktionsgerüst sind ein essentielles Merkmal im gesamten Werk von Georges Perec. Das Element des Zufalls im Rahmen des Determinismus bezeichnen bereits die antiken Autoren Epikur und Lukrez als Clinamen (griechisch: geringfügige Abweichung) [ALIW 597]. Außerdem kann die Auslassung in der linken unteren Ecke als Hinweis auf das zentrale Motiv in Georges Perecs autobiografischem Roman “W oder die Kindheitserinnerung„ (1975) gelesen werden: “Die erste Erinnerung … die Form eines im linken unteren Winkel geöffneten Quadrats.„ [W 21].
Die Rösselsprung-Lösung begründet auch die Aufteilung des Buches in sechs Teile: Immer wenn der Springer alle vier Seiten des Quadrats berührt hat, beginnt ein neuer Teil.
Im Zusammenhang mit dem Rösselsprung-Problem beschäftigte Euler sich auch intensiv mit Lateinischen Quadraten, die so benannt werden, weil Euler lateinische Buchstaben nutzte, um die Felder zu füllen. Ein griechisch-lateinisches Quadrat, auch Eulersches Quadrat genannt. entsteht aus der Kombination zweier lateinischer Quadrate. Leonhard Euler hatte die Buchstaben des griechischen und des lateinischen Alphabets zur Konstruktion verwendet, daher der Name Griechisch-lateinisches Quadrat. Griechisch-lateinische Quadrate sind mit magischen Quadraten verwandt. Wenn man von den Bedingungen an die Diagonalen absieht, kann man jedes Eulersches Quadrat ohne weiteres in ein magisches Quadrat überführen. Andersherum geht es im Allgemeinen nicht.
Beispiel: Ein griechisch-lateinisches oder Eulersches Quadrat der Größe 5 ist ein quadratisches Schema mit 5 Zeilen und 5 Spalten, bei dem in jedem Feld ein Zeichen aus einer Menge L (ABCDE) und eines aus einer anderen Menge G (αβγδε) eingetragen ist. Dabei muss in jeder Zeile und auch in jeder Spalte jedes Element aus L und ebenso jedes Element aus G genau einmal vorkommen, und jede Kombination der Elemente (z.B. Eδ) muss im gesamten Quadrat genau einmal vorkommen.
Erst 1959 hatten die Mathematiker Bose, Chakravarti und Knuth die Vermutung Leonard Eulers widerlegt, es könne kein Griechisch-lateinisches Quadrat der Ordnung zehn geben, indem sie mit Hilfe eines Computers ein solches Quadrat berechneten [ALIW 399, 420]. Martin Gardner hat diese Entdeckung in dem berühmt gewordenen Artikel über Euler's spoilers (Scientific American, November 1959) bekannt gemacht. Wenig später war sogar sicher, dass es sehr viele Lösungen für das Problem gibt. [Martin Gardner: New Mathematical Diversions (1995), Kapitel 14, Seite 162-172. http://de.scribd.com/doc/88539484/15/Euler-s-Spoilers-The-Discovery-of-an-Order-10-Graeco-Latin-Square]
Seit 1967 war GEORGES PEREC Mitglied der Gruppe OuLIPO, die 1960 von François Le Lionnais und Raymond Queneau gegründet worden war. OuLIPO ist ein Akronym von L' Ouvroir de Littérature Potentielle (“Werkstatt für Potentielle Literatur„). Das Grundprinzip von OuLIPO ist die Erfindung neuer sprachlicher Möglichkeiten durch die Anwendung von “contraintes„, kreativen Beschränkungen, die oft einen mathematischen Hintergrund haben (z.B. Geometrie, Permutation, Kombinatorik, Graphentheorie).
Raymond Queneau hatte bereits 1949 seine Exercises de Style, Stilübungen (Rezension) publiziert. Hier erzählt er ein völlig banales Geschehen in der Pariser Autobuslinie S in 99 Variationen. Dabei benutzt er unterschiedliche Stilebenen (Amtlicher Brief, Vulgär, Preziös, ...), Gattungen (Komödie, Klappentext, Alexandriner, ...), Perspektiven (Philosophisch, Parteiisch, Geschmacklich, ...) und Sondersprachen (Hellenismen, Javanisch, Küchenlatein, ...). In einigen Versionen wird der Text bis zur Unkenntlichkeit reduziert, verbogen oder durch “Permutationen in Gruppen„ von 2 bis 12 Buchstaben oder 1 bis 4 Wörtern aufgelöst.
Georges Perec hat vieles davon in seinem Buch wieder aufgenommen. Die 99 Kapitel von Das Leben Gebrauchsanweisung sind auch eine Reverenz an Raymond Queneau, dem das Buch gewidmet ist. Georges Perec mischt in Das Leben Gebrauchsanweisung ebenso wie Queneau eine Vielzahl unterschiedlicher Stile, Textsorten und literarischer Formen.
Claude Berge, Mathematiker und OuLIPO-Mitglied hatte 1967 angeregt, das griechisch-lateinische Quadrat der Ordnung zehn als Herausforderung aufzunehmen. Georges Perec nahm die Herausforderung an und benutzte 10*10 Felder. Das Haus im Buch hat vom Keller bis zum Dachgeschoss zehn Etagen mit jeweils zehn Räumen. [ALIW 514] Der Plan des Hauses auf der letzten Seite hinter dem Epilog zeigt allerdings in keinem Geschoss zehn Räume - eine Abweichung. Durch die Züge des Springers wird die Zuordnung der Kapitel und Personen des Buches zu den Räumen des Hauses festgelegt. Das Buch beginnt im Feld 6,6, Treppenhaus, 4. Etage: “Ja, hier wird es beginnen: zwischen dem dritten und dem vierten Stock in der Rue Simon-Crubellier Nummer 11„ [Leben 20]. Zugleich begründet das erste Kapitel mit einem kleinen Hinweis den Spannungsbogen des gesamten Buches: “Gaspard Winckler ist tot, doch die lange Rache, über die er so geduldig, so sorgfältig gebrütet hat, ist noch lange nicht gestillt.„ [Leben 23]
1972 hatte Georges Perec auf einer OuLiPO-Sitzung den Plan für
einen Roman mit vier Entwurfsprinzipien vorgestellt. Damit nahm er die Anregung
von Claude Berget und eine von François Le
Lionnais (FLL) formulierte Herausforderung auf und präsentierte
“FLL‘s perfect cup of tea„ [ALIW 508]:
1. Eine Rösselsprung-Lösung für ein Brett mit 10*10 Feldern.
2. Verwendung eines Eulerschen Quadrats der Größe 10
3. Zehnt (dixaine) falsch
4. Das Bild eines Hauses ohne Fassade mit zehn Geschossen mit jeweils zehn
Räumen.
Perec hat nach eigener Aussage zehn Jahre an Das Leben Gebrauchsanweisung gearbeitet. Die “Bartlebooth-Synopse„, zuerst 1969 erwähnt, kann als Anfangspunkt gelten. [ALIW 459,513]. Konkret wurden die Pläne 1972, nachdem Perec im Juni in die Avenue de Ségur 85 umgezogen war, ein Haus, das sehr wohl als Anregung gedient haben könnte. Im Herbst 1976 begann Perec mit der Arbeit am Manuskript. Am 5. April 1978 um 19 Uhr 25 war das Manuskript beendet, nur die Register, die Georges Perec als integralen Bestandteil des Buches sah und eigenhändig erstellen würde, fehlten noch. [ALIW 501,513,592,623].
Die “Erinnerung an einige der in diesem Werk erzählten Geschichten„ im Anhang von Das Leben Gebrauchsanweisung nennt im Original 107 Geschichten, die im Buch erzählt werden. In einem Interview mit Gabriel Simony im Jahr 1981 sprach Georges Perec dagegen von 380 Geschichten, die er im Buch erzählt.
Darunter sind wahre Geschichten, erfundene “wahre„ Geschichten, fiktive Geschichten und unvollendete. Georges Perec sagte: “Es gibt von den dreihundertachtzig Geschichten nur eine einzige, die optimistisch ist. Es ist die vorletzte, die Geschichte von dem Ehepaar, dass sich ein Luxusbett kauft und sich über Jahre hinaus verschuldet. Am Ende, in allerletzter Minute, geht es gut aus.„ [BEIHEFT, Interview 18, 5. Auflage, 2002] Ausgerechnet diese Geschichte ist in dem Verzeichnis der Geschichten in der deutschen Übersetzung nicht enthalten. Dort sind nur 106 Geschichten genannt. Aber nicht einmal alle Geschichten in dem Buch sind überhaupt erzählt. Georges Perec weist selbst auf eine Geschichte hin, die in dem Buch steckt, die er aber nicht erzählt hat: “Zum Beispiel die Geschichte von Madame Crespi ist nicht erzählt worden. Es gibt nur ein ganz kleines Kapitel über sie. … In Wirklichkeit ist ihre ganze Geschichte sehr wichtig im Buch. … Man kann ihre Geschichte nur häppchenweise rekonstruieren, indem man alle Passagen versammelt, in denen sie anzutreffen ist.„ [BEIHEFT, Interview 14, 5. Auflage, 2002] Ein anderes Beispiel ist die Geschichte von Valène, der ebenfalls nur ein eigenes Kapitel erhalten hat und dessen Geschichte erst im Epilog endet.“ Aus diesem Grund ist am Ende ein Register. Damit man selber Geschichten neu zusammensetzen oder Geschichten fortsetzen kann, die nicht zu Ende erzählt sind.„ [BEIHEFT, Interview, 14]
Insgesamt benutzte Georges Perec nicht weniger als einundzwanzig Eulersche Quadrate mit jeweils 100 Feldern, um die Elemente von 42 Listen mit je zehn Elementen auf die neunundneunzig Kapitel des Buches zu verteilen. Für jedes Kapitel im Buch waren somit 42 Elemente vorgegeben, die in diesem Kapitel und in dieser Kombination nur in diesem Kapitel unterzubringen wären. Alle entstehenden Bedingungen waren in dem “Pflichtenheft„ (Cahier des Charges) festgehalten und bildeten das formale Gerüst für seinen Roman. Ein Moment des Zufalls war schon dadurch enthalten, dass die Einträge der Listen 1- 38 keine natürliche Folge darstellen, sondern eine von Georges Perec bestimmte, willkürliche oder kalkulierte Zusammenstellung sind. Z.B. enthält Liste 1, Position “ein Arm in der Luft„, aber keine andere Position, die durch die Lage von Armen oder Beinen definiert wäre. Es gibt “flach auf dem Bauch„ und “auf dem Rücken liegend„, aber nicht “auf der Seite liegend„ oder “auf dem Kopf stehend„
[ALIW 515,516, 601ff]
Nr |
Id |
|
1 |
2 |
3 |
4 |
5 |
6 |
7 |
8 |
9 |
0 |
1 |
1A |
Position |
kniend |
hinuntergehen / hocken |
flach auf dem Bauch |
sitzend |
stehend |
hinaufgehen |
eintreten |
hinausgehen |
auf dem Rücken liegend |
ein Arm in der Luft |
2 |
1a |
Aktivität |
Anstreichen |
Gespräch |
Toilette |
Erotik |
Ordnen |
Plan ausdenken |
reparieren |
lesen / schreiben |
ein Stück Holz halten |
essen |
3 |
1B |
Zitat 1 |
Flaubert |
Sterne |
Proust |
Kafka |
Leiris |
Roussel |
Queneau |
Verne |
Borges |
Mathews |
4 |
1b |
Zitat 2 |
Mann |
Nabokov |
Roubaud |
Butor |
Rabelais |
Freud |
Stendhal |
Joyce |
Lowry |
Calvino |
5 |
2A |
Personen |
1 |
2 |
3 |
4 |
5 |
5+ |
1. |
2. |
3. |
0 |
6 |
2a |
Rollen |
Bewohner |
Bewohner. |
Bewohner.. |
Verkäufer |
Arbeiter |
Andere (Fahnder / Postbote) |
Kunde |
Lieferant |
Diener |
Freund |
7 |
2B |
Tertiärer Sektor |
Diverses |
Bibliografie |
Vorschriften |
Familienanzeige |
Kochrezept |
pharmazeutisches Prospekt |
Notizbuch, Kalender |
Programm |
Wörterbuch |
Gebrauchsanweisung |
8 |
2b |
Ressort ? |
Rückkehr von Reise |
Brief bekommen |
Verbindung aufstellen |
Gewinn als Lockmittel |
in Sehnsucht schwimmen |
einen Traum haben |
kreieren |
ein Rätsel lösen |
Hirngespinst verfolgen |
Rache anzetteln |
9 |
3A |
Wände |
matte Farbe |
Jutestoff etc. |
Täfelung |
Kork |
Metallplatten |
Papier uni / geometrisch |
glänzende Farbe |
Toile-de-Jouy Kattun |
Papier mit Motiv |
Leder, Vinyl |
10 |
3a |
Böden |
franz. Parkett |
ungar. Parkett |
Stab-Parkett |
Mosaik-Parkett |
rechteckige Fliesen |
Teppich |
Teppich Leinen / Seide |
Linoleum |
Mauerstein |
Teppich / Sisal |
11 |
3B |
Epoche |
Altertum |
Mittelalter |
Renaissance |
17.Jh. |
18. Jh. |
Revolution / Empire |
19. Jh. |
vor 1939 |
1939–1945 |
nach dem Krieg |
12 |
3b |
Ort |
Deutschland |
Italien |
England |
Spanien |
Russland |
USA |
Äußerer Orient |
Nordafrika |
Südafrika |
mittlerer Orient |
13 |
4A |
Stil |
chinesisch |
zeitgenössisch |
Louis XV / XVI |
Empire |
Regency |
Napoléón III |
Louis XIII |
rustikal |
Camping |
modern |
14 |
4a |
Möbel |
Tisch |
Stuhl |
Sessel |
Anrichte / Schrank |
Bett |
Bibliothek |
kleiner Tisch |
Kommode |
Sofa, Couch |
Büro |
15 |
4B |
Kapitellänge |
einige Zeilen |
1 Seite |
2 |
3 |
4 |
5 |
6 |
8 |
10 |
12+ |
16 |
4b |
Diverses |
Waffen |
Geld (Scheine) |
Krankheit |
Flamme |
Militär |
Institution |
Klerus |
Messer |
Physiologie 1860 |
Dänische Literatur |
17 |
5A |
Alter / Geschlecht |
Frau 35–60 |
Mann 35–60 |
Greis |
Greisin |
Frau 18–35 |
Mann 18–35 |
Junge 17 |
Mädchen 17 |
junges Kind 10 |
Baby 1 |
18 |
5a |
Tiere |
Katze |
Hund |
Vogel |
Fisch |
Ratte, Maus |
Fliege |
Wespe, Biene |
Spinne |
Insekten |
Andere |
19 |
5B |
Kleidung |
Kostüm, Anzug |
Mantel |
Hausjacke |
Hose / Rock |
Weste |
Hemd |
Pullover |
Regenmantel |
Uniform |
Jacke |
20 |
5b |
Stoffmuster |
uni |
Streifen |
Tupfen |
Karo |
Schotten |
Patchwork |
Ranken |
Blumen |
bedruckt |
Mit Motiv bestickt |
21 |
6A |
Stoffmaterial |
Seide |
Wolle |
Cashmere |
Flanell, Filz |
Nylon |
Leder |
Faden |
Baumwolle |
Velours, Samt |
Leinen, Flachs |
22 |
6a |
Farben |
weiß |
grün |
braun |
schwarz |
gelb |
orange |
grau |
rot |
violett |
himmelblau |
23 |
6B |
Accessoires |
Hut |
Schlips, Tuch |
Schal |
Handschuhe |
Schuhe |
Taschentuch |
Hosenträger |
Gürtel |
Unterwäsche |
Strumpf, Socken |
24 |
6b |
Schmuck |
Kette |
Ring |
Armband |
Stock |
Brille |
Medaille |
Uhr |
Feuerzeug |
Handtasche |
Krawattennadel / Brosche |
25 |
7A |
Lektüre |
Tageszeitung |
Roman / Essay |
Wochenzeitschrift |
Brief |
Tertiärer Sektor |
Zeitschrift |
Krimi / Science Fiction |
Schulbuch |
Kunstbuch |
Porno |
26 |
7a |
Musik |
Oldies |
Klassik |
romantisch |
seriell |
zeitgenössisch |
Jazz |
Pop / Folk |
Schlager / Hits |
militärisch |
Oper |
27 |
7B |
Gemälde |
Das Arnolfini Portrait (Jan Van Eyck) |
St Jerome (Antonello da Messina) |
Die Gesandten (Hans Holbein) |
Der Sturz des Ikarus (Pieter Bruegel) |
Las Meninas (Velasquez) |
Der Sturm (Giorgione) |
Der Goldwäger und seine Frau (Metsys) |
Der Traum der hl. Ursula (Carpaccio) |
Der Heuwagen (Hieronymus Bosch) |
Stillleben mit Schachbrett (Lubin Baugin) |
28 |
7b |
Bücher |
Zehn kleine Negerlein (Agatha Christie) |
Anton Voyls Fortgang (Georges Perec) |
Die lebenden Steine (Theodore Sturgeon) |
Moby Dick (Herman Melville) |
Umwandlungen (Harry Mathews) |
Mein Freund Pierrot (Raymond Queneau) |
Hundert Jahre Einsamkeit (Gabriel García Márquez) |
Hamlet (William Shakespeare) |
Der heilige Gral |
König Ubu (Alfred Jarry) |
29 |
8A |
Getränke |
Wasser |
Wein |
Alkohol |
Bier, Cidre |
Tee |
Kaffee |
Aufguss |
Fruchtsaft |
Milch |
Cola etc. |
30 |
8a |
Nahrung |
Brot |
Wurst / Aufschnitt |
Eier / Salat |
Fleisch / Wild / |
Innereien |
Fisch / Schalentiere |
Gemüse / Stärkehaltiges |
Käse Obst |
Konditorei- / Süßwaren |
Zakouskis |
31 |
8B |
Kleine Möbel |
(Pende)-Uhr |
Aschenbecher |
Lampe / Kerzenleuchter |
Bewegliches |
Spiegel |
Piano |
Kronleuchter |
Telefon |
Radio / Hifi etc. |
Kiste |
32 |
8b |
Spiele |
Karten |
Knochenwürfel |
Domino |
Solitaire |
Go / Schach / Dame |
Backgammon |
Kreuzworträtsel |
Puzzle |
Automaten |
Kreisel / Kugelfangspiel |
33 |
9A |
Gefühle |
Gleichgültigkeit |
Freude |
Schmerz |
Sehnsucht / Langeweile |
Wut / Ärger |
Angst |
Erstaunen |
Hass |
Liebe |
Ehrgeiz |
34 |
9a |
Bilder |
nackte Wand |
Zeichnung |
Gravur |
Aquarell |
Gemälde |
Reproduktion / Druck |
Karte / Plan |
Fotos |
Plakat |
Postkarten |
35 |
9B |
Oberflächen |
quadratisch |
rechteckig |
dreieckig |
sechseckig |
achteckig |
Trapez |
Kreis |
Oval |
Raute |
Stern |
36 |
9b |
Volumen |
Würfel |
gleichseitiges Rechteck |
Pyramide |
Zylinder |
Sphäre |
Ei |
Polyeder |
Kegel |
Halbkugel |
Fass |
37 |
0A |
Pflanzen |
Blumen |
Strohblume / Distel |
Strauch |
grüne Pflanzen |
Gewürze |
Holz |
Blume im Glas / Plastikblume |
Trockenblume |
Japanische Gärten |
Gras |
38 |
0a |
Nippes |
Marmor |
Halbedelsteine |
Metall / Minerale |
Kupfer / Zinn |
Gold / Silber |
Elfenbein / Perlmutt |
geschliffenes Kristallglas |
Alabaster |
Bronze |
Stahl / Alu |
39 |
0B |
Niedrig / Fehler |
1 |
2 |
3 |
4 |
5 |
6 |
7 |
8 |
9 |
0 |
40 |
0b |
Falsch |
1 |
2 |
3 |
4 |
5 |
6 |
7 |
8 |
9 |
0 |
41 / 42 |
|
Paare |
Laurel / Hardy |
Hammer / Sichel |
Racine / Shakespeare |
Philémon / Baucis |
Verbrechen / Strafe |
Stolz / Vorurteil |
Nacht / Nebel |
Asche / Diamanten |
Ackerbau / Weideland |
Schöne / Biest |
Liste 7, Tertiärer Sektor: [ALIW 604m] Der Begriff wurde von FLL für Gebrauchstexte aller Art geprägt (engl. Bumph: Ramsch, Wisch): Etiketten, Schilder, Anzeigen, Visitenkarten etc. Die meisten Elemente, die im Buch in spezieller Typographie “zitiert„ werden, gehören dazu.
Die ersten 38 Listen enthalten je 10 Elemente aus verschiedensten Kategorien. Die Listen 39 und 40 dagegen enthalten die Nummern 1 bis 0 (10) und sind “Metaregeln„, deren Anwendung auf die Listen die übrigen Regeln allesamt auf den Kopf stellen kann - “teuflische Joker„ [ALIW 599, 601, 605], die Abweichungen – Clinamen – produzieren. Entweder, indem eine Vorgabe falsch oder mit einer Lücke anzuwenden ist. Dazu waren die ersten vierzig Listen in zehn Gruppen zu je vier Listen aufgeteilt mit den Indices “AaBb„ für die vier Listen in der Gruppe. Die Nummern 1-10 in den Listen 38 und 39 bezogen sich auf diese Gruppen, dadurch entstand ein großer Spielraum bei der Anwendung. Besonders vertrackt wurde die Regeln, wenn “Fehler„ oder “Falsch„ auf sich selbst oder aufeinander angewendet werden: Die beiden Listen sind selbst in der zehnten Gruppe enthalten.
Die Listen 41 und 42 enthalten zusammen Paare von Namen. Da die beiden Listen einzeln angewendet werden, ergeben sich in neun von zehn Fällen eigenartige Paarungen.
Im Arbeitsprozess entschied Georges Perec sich aber auch, nicht in allen Kapiteln alle 42 Vorgaben zu erfüllen. Bis zu Kapitel 42 (!) führte Georges Perec gewissenhaft Buch über die angewandten Bedingungen. Nur 18 der ersten 42 Kapitel halten demnach alle Vorgaben ein. Kapitel 5, ein sehr kurzes Kapitel von etwa einer Seite Länge (Siehe Liste 15, Kapitellänge), kommt nur auf 24 eingehaltene Bedingungen. [ALIW 605] Über die Listen hinaus stellte Georges Perec für einzelne Kapitel aber auch zusätzliche Bedingungen auf.
Außerdem gibt es drei zusätzliche Regeln, die Georges Perec in jedem Kapitel beachtet hat.
Zum ersten gibt es in jedem Kapitel einen – manchmal schwer erkennbaren - Bezug auf einen anderen Text von Georges Perec, sei er veröffentlicht oder nicht oder auch nur geplant. Zum Beispiel erzählt Kapitel 52 über Grégoire Simpson die gleiche Geschichte, die auch dem Buch “Ein Mann der schläft„ zu Grunde liegt. [ALIW 605]
Zum Zweiten sollte in jedem Kapitel ein Gegenstand oder Ereignis vorkommen, der Georges Perec während des Schreibens an diesem Kapitel begegnete. Für den Leser sind diese Bezüge kaum erkennbar. [ALIW 606]
Zum Dritten stellte Georges Perec sich die Bedingung, in jedem Kapitel die Koordinaten des zugehörigen Feldes aus der Rösselsprung-Lösung zu nennen. Oft, nicht immer, sind die beiden Zahlen im Text als Ziffern gedruckt, manchmal auch versteckt: Am Schlüsselbund der Maklerin in Kapitel 1 (Koordinaten 6,6) hängt an einem Schlüsselring “ein Dominostein, der ein Doppel-Sechs darstellt„. In Kapitel 2 (Koordinaten 7,8) verfasst Beaumont “einen 78 Seiten langen technischen Bericht„. [ALIW 606]
Georges Perec hatte damit für sich eine Schreib-Maschine hergestellt, deren “Mechanik„ so kompliziert und durch Abweichungen so verborgen war, dass die Funktion aus dem Ergebnis für den Leser kaum zu dechiffrieren ist. Georges Perec war stolz darauf, diese Erfindung so unsichtbar zu machen und hatte gleichzeitig das Bedürfnis, diesen wunderbaren Mechanismus zu erklären. “wie ein Kind, das Versteck spielt und nicht weiß, was es am meisten fürchtet oder wünscht: versteckt bleiben oder entdeckt werden.„ (W Kapitel II, Seite 14). [ALIW 594]
1B Zitat 1 Kafka
1b Zitat 2 Lowry
7b Bücher Conversions (Harry Mathews)
4B Länge 6 Seiten, tatsächlich 4
0B Lücke 0 Nippes ?
0b falsch 7 angewandt auf Conversions (Harry Mathews)?
Rösselsprung-Koordinaten: 6,6
2A Zahl
der Personen 3
siehe Kompendium (Kapitel 51, Zeile, frz. / dt.):
90 / 87 Der Urgroßvetter, der das väterliche Erbe versteigern sollte
98 / 91 Die Frau von der Agentur besichtigt die leerstehende Wohnung
115 / 119 Schwarzbemantelter Mann streifte seine neuen Handschuhe über
Anhang : Chronologische Anhaltpunkte
1942 Tod der Schwester Gaspard Wincklers,
Anne Voltimand.
Kapitel 99 eine Angestellte des Immobilien-Maklers kommt noch spät, um die Wohnung zu besichtigen, in der Gaspard Winckler gewohnt hatte.
Orte man geht immer durchs Treppenhaus hinaus
Personen Die Frau, die die Treppe hinaufsteigt, ist nicht die Immobilienhändlerin, sondern ihre Stellvertreterin
Aktion Eine
Frau von etwa vierzig Jahren steigt gerade die Treppe hoch,
Die Frau schaut auf einen Plan
Selbstbezug
Kapitel 1 “diese schallenden Echos …, diese Brocken, diese Fetzen, diese Skizzen, diese Köder, diese Zwischenfälle oder Unfälle„
Especes
d'espaces »Schreiben: peinlich genau versuchen, etwas
festzuhalten, etwas überleben zu lassen: der Leere, die sich höhlt, einige
genaue Fetzen entreißen, irgendwo eine Furche, eine Spur, ein Merkmal oder
einige Zeichen lassen. «
Espèces d'espaces. Galilée, Paris 1974, letzter Absatz.
Dt: Träume von Räumen. Manholt, Bremen 1990, Fischer Tb 1994.
Engl. : Species of spaces
vgl. : S. 27,29f,52-57
Ein besonders ungewöhnliches Kapitel aus Das Leben Gebrauchsanweisung erschien 1978 vorab in der Zeitschrift “PO&SIE„. Das zentrale Kapitel 51 erzählt von Valène, dem Maler, der genauso alt ist wie Bartlebooth [195] und schon seit 1919 in diesem Haus lebt, länger als jeder andere. [Kap. 17, 108, 109: Seit. Okt 1919, Kap. 28 211]. Es ist eine fiktive Geschichte, denn Valène ist da schon tot. [Epilog 775 Ende plan des Hauses 776] Das Kapitel beschreibt das letzte Bild, das Valène malen, wollte: Das Gedächtnis des Hauses das Valène selbst war. [Plan Gemälde Kap. 28, 210] Das Gemälde würde “die ganze Heerschar seiner Figuren„ zeigen, mit ihren Geschichten, ihrer Vergangenheit, ihren Legenden„. Diese Figuren sind in einem Kompendium von drei mal sechzig Zeilen enthalten, die ein streng formales Gedicht bilden:
Jeder Teil ist ein Quadrat aus 60*60 Anschlägen auf der
Schreibmaschine.
Die Zeilen jedes Teils bilden eine geometrische Folge, bestimmt durch die
Position je eines Buchstabens
Es ist eine Aufzählung von Personen und Geschichten
Es benutzt die rhetorische Figur der Wiederholung
Es hat Rhythmus
Es hat ein Clinamen, eine Auslassung.
Es hat eine versteckte Aussage.
Im französischen Originaltext bilden die drei Buchstaben AME
das französische Wort “âme„, Seele. Diese Anspielung kann mehrfach verstanden
werden. Zum einen ist Valène in gewissem Sinn die Seele des Hauses, das mit ihm
stirbt und die 180 Personen bilden die Seele des Buches, um die sich alle
Geschichten ranken. Zum anderen enthält AME einen Hinweis auf die Legende vom
Golem, die im Leben und im Werk von Georges Perec eine zentrale Rolle spielt. Der
Golem trägt auf der Stirn die drei hebräischen Buchstaben für EMETh, das
hebräische Wort für Wahrheit. Entfernt man den ersten der drei Buchstaben
dieses Wortes, bleibt das hebräische Wort für “Tod„ übrig (METh). Das “E„ hatte
Georges Perec schon in seinem Leipogramm La Disparition weggelassen.
Hier, in Das Leben Gebrauchsanweisung, fehlt die letzte Zeile des dritten
Blocks, in der der Buchstabe “E„ an der ersten Stelle stehen müsste.
Um das formale Gerüst erkennen zu können, muss der Text mit fester
Zeichenbreite geschrieben werden:
0 1 2 3 4 5 6
123456789012345678901234567890123456789012345678901234567890
1 Pélage vainqueur d’Alkhamah se faisant couronner à Covadonga
...
30 Le douloureux « tueur de mots » traînant auprès des bouquinistes
31 L´enquêteur vêtu de noir vendant une nouvelle clé des songes
...
60 Aetius arrêtant les hordes d´Attila aux Champs Catalauniques
61 Le sultan Selim III atteignant huit cent quatre-vingt-huit m
...
90 L´arrière-petit-cousin devant mettre l´héritage aux enchères
91 Les douaniers déballant le samovar de la Princesse en colère
...
120 Monsieur Riri somnolant après-déjeuner derrière son comptoir
121 Mark Twain découvrant dans un journal sa notice nécrologique
...
150 Le chorégraphe fou d´amour revenant hanter la dure ballerine
151 L´ex-concierge espagnole se refusant à débloquer l´ascenseur
...
179 Le vieux peintre faisant tenir toute la maison dans sa toile
180
Eugen Helmlé ist es gelungen, nicht nur den Inhalt zu übersetzen, sondern auch die Form zu wahren und den versteckten Text:
0 1 2 3 4 5 6
123456789012345678901234567890123456789012345678901234567890
1 Pelayo, einst Sieger von Alkhamah, mit seinem Krönungskonvoi
...
30 Der empfindliche »Worttöter« irrt bei den Bouquinisten umher
31 Die Freundin, die Biographien ihrer fünf Nichten wiederlesend
...
60 Im Orlando d´Arconati verlangt Orfanik das Lied der Angelika
61 Sultan Selim III. gibt zu: auch er hat wie andere seinen Tic
...
90 Der Zarist schenkte Grisi hübschen Mahagonischreibtischstuhl
91 Die Frau von der Agentur besichtigt die leerstehende Wohnung
...
120 Colbert bekommt Dom Perigords besten Champagner zu versuchen
121 Die Sekretärin poliert den für Kleber verhängnisvollen Dolch
...
150 Chirurg wird unter Waffenandrohungen zur Operation gezwungen
151 Die Touristinnen bemühten sich vergeblich um türkischen Ring
...
179 Ehrgeiziger Tischler aus Italien bügelt Wühlen des Wurms aus
180
Aus “âme„, französisch, Seele, wird in der Übersetzung “ich„.
Kleine Unregelmäßigkeiten entstehen durch die unterschiedliche Zählung von
Anführungszeichen und Satzzeichen: Bei Georges Perec kein Anschlag, bei
Eugen Helmlé zählen sie mit. Im Französischen Text gibt es kein Komma, bei Eugen
Helmlé zählt es nicht (immer). Verständlicherweise musste Eugen Helmlé in der
Übersetzung die Reihenfolge der Zeilen ändern.
[ALIW 675, 594, 602, 605, 640]
Ein anderes – leicht zu entdeckendes - Buchstabenrätsel findet sich im Kapitel 87. In dem Ansiedlungsschema von “Marvel Houses Incorporated und International Hostellerie„: “Dank eines äußerst ausgeklügelten Systems ergab die Aufzählung der vierundzwanzig ausgewählten Orte senkrecht und Seite an Seite, den Namen der beiden Gründerfirmen.„
Ein zweites Kompendium ist in Kapitel 99, dem letzten
Kapitel des Buches enthalten. Sechs Absätze, entsprechend den sechs Teilen des
Buches, enthalten Referenzen auf jedes einzelne der 99 Kapitel.
[http://escarbille.free.fr/vme/?lmn=51
élément : 'chap.99'] Der erste beginnt mit “Es ist der dreiundzwanzigste Juni
neunzehnhundertfünfundsiebzi g und es ist kurz vor acht Uhr abends.„ Georges
Perec zeigt hier, dass das ganze Buch nicht länger dauert als einen Augenblick.
Im ersten Kapitel heißt es: “Eine Frau von etwa vierzig Jahren steigt gerade
die Treppe hoch.„ In Kapitel 99 folgt dazu die Zeitangabe: “Es ist der dreiundzwanzigste
Juni neunzehnhundertfünfundsiebzi g und es ist fast acht Uhr abends. … eine
Angestellte des Immobilienmaklers kommt noch spät, um die Wohnung zu
besichtigen, in der Gaspard Winckler gewohnt hatte.„ Der nächste Absatz ist
bereits Zukunft: “Es ist der dreiundzwanzigste Juni neunzehnhundertfünfundsiebzi
g und es ist wird im Augenblick acht Uhr abends sein.„
Georges Perec spielt mit Zitaten. Die Mehrschichtigkeit möglicher, erfundener und tatsächlicher Zitate verleiht dem Buch einen mindestens doppelten Boden. Einige Zitate sind korrekt zugeschrieben, andere falsch benannt, wieder andere versteckt, so dass sie nur für Kenner des zitierten Autors erkennbar sind. Die Geschichte von dem schwedischen Diplomaten und seiner Rache hatte ein Detail aus dem Roman zehn kleine Negerlein von Agatha Christie als Ausgangspunkt. Die Erzählung ist eine Erzählung in einer Erzählung. [BEIHEFT, Interview,13] Insgesamt enthält das Buch mehrere Hundert Zitate. Die beiden Zitate-Listen (3 und 4), die Bücher-Liste (28) und die Namenslisten (41/42) erlauben ein facettenreiches Spiel. Dazu kommen noch die Bezüge auf Georges Perecs eigenes Werk.
Die “Geschichte von dem Akrobaten, der nicht mehr von seinem Trapez herunter wollte„ (Kapitel 13) ist wortwörtlich bei Kafka entlehnt. Der erste Teil (“Erstes Leid„) von Kafkas Erzählung “Ein Hungerkünstler„ (1924) erzählt die Geschichte eines Trapezkünstlers. Beginnend mit den Worten “Zuerst nur aus dem Streben nach Vervollkommnung …„ hat Georges Perec ganze Absätze dieser Geschichte wortwörtlich von Kafka übernommen – wortwörtlich natürlich nur in der deutschen Übersetzung. [ALIW 603, 627ff]
Das Puppenhaus in der Bibliothek von Madame Moreaus Wohnung (Kapitel
23) ist das getreue Abbild von Blooms erträumten Haus in der vorletzten Episode
“Ithaca„ in James Joyce Ulysses:
Perec: “ein Salon mit Erkerfenster (zwei Spitzbögen), Thermometer gleich
daneben, …„
Joyce: “1 drawingroom with baywindow (2 lancets), thermometer affixed, …”
Joyce, deutsch“1 Salon mit erkerfenstere (2 Spitzbögen), Thermometer gleich
daneben, …„
[http://www.online-literature.com/james_joyce/ulysses/17/ Suchtext: “drawingroom with baywindow (2 lancets)”]
Mit diesem versteckten Zitat war die Bedingung, Joyce aus der Liste 4, Zitate 2, in Kapitel 23 zu zitieren, erfüllt.
Georges Perec wollte mit jedem seiner Bücher etwas vollständig Neues schaffen, sich nicht wiederholen. Der Plan für Das Leben Gebrauchsanweisung war, ein großes Werk zu schaffen, ein Buch, das in sich einen ganzen Mikrokosmos erschafft. Etwas wie Herrmann Melvilles Moby Dick, Tolstois Krieg und Frieden, Thomas Manns Zauberberg oder eben James Joyce Ulysses. Georges Perec hat sich sehr intensiv mit Ulysses auseinandergesetzt.
[David Bellos, ALIW 626, nach Soren Kierkegaard]
„Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, daß das
Leben rückwärts verstanden werden muß. Aber darüber vergißt man den andern
Satz, daß vorwärts gelebt werden muß.“
Soren Kierkegaard: Die Tagebücher. Deutsch von
Theodor Haecker. Brenner-Verlag 1923, S. 203
Deutschsprachige Literatur zu Georges Perec ist eher selten. Die meisten Veröffentlichungen und Internetseiten sind in französischer oder englischer Sprache.
BEIHEFT Eigen Helmlé: Marginalien zu Georges Perec. Ein Beiheft. Beiheft zur 5. Auflage von Das Leben Gebrauchsanweisung, 24 Seiten, Zweitausendeins 2002
Gabriel Simony: Interview mit Georges Perec, 1981. In: BEIHEFT, s.o.
Gundel Mattenklott: Über einige Spiele in Georges Perecs
Roman „Das Leben Gebrauchsanweisung“ (ZEITSCHRIFT ÄSTHETISCHE
BILDUNG 2009) als Pdf verfügbar:
http://zaeb.net/index.php/zaeb/rt/suppFiles/10/0
Ariane Steiner: Georges Perec und Deutschland. Das Puzzle um die Leere. Königshausen & Neumann, Würzburg 2001 ISBN 3826020081 (in google books teilweise einsehbar)
Cornelia Fränz, Potentielle Typografie zu Georges Perecs »Das Leben Gebrauchsanweisung«, Diplomarbeit, Februar 2009, http://www.open-output.org/CorneliaFraenz/project/8396 mit Fotos und Videos.
Hypertext-Umsetzung des Pflichtenhefts (Cahier des Charges) zu Das Leben Gebrauchsanweisung mit den bekannten constraints: http://escarbille.free.fr/vme.php
ALIW David Bellos: Georges Perec. A Life in Words. David R. Godine, Boston 1993, ISBN 1860460747.
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Hinweise und Beschwerden bitte an Klaus Kuliga